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10. April 2020
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Stefan Herweg

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Bargeld 2.0: Ein öffentlicher E-Euro für die demokratische Digitalisierung im Finanzsektor?

16 min Lesezeit

STEFAN HERWEG, CAROLINA MELCHES

Im Juni 2019 kündigte Facebook an, eine eigene Währung namens „Libra“ auszugeben. Dieser Vorstoß hat Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und die Finanzbranche in Aufruhr versetzt. Dabei ist Facebook nur die Spitze des Eisbergs. Denn die Digitalisierung des Geld- und Zahlungsverkehrs schreitet seit Jahren voran, die Relevanz klassischer Geschäftsbanken und des Bargelds nimmt tendenziell ab. Stattdessen entern Finanz-Startups (FinTechs) und vermehrt auch die großen Tech-Firmen wie Amazon, Google und Facebook (BigTechs) den Finanzsektor.

Ökonomisch werden Nutzerdaten zum essentiellen Rohstoff vieler Geschäftsmodelle, da sie Algorithmen füttern und maßgeschneiderte Produkte und Werbung ermöglichen. Durch Skalen- und Netzwerkeffekte wird Größe für Unternehmen und ihre Plattformen zum Wettbewerbsvorteil. Für Kunden werden intuitive App-Lösungen und die Verlagerung von Dienstleistungen auf das Smartphone zum Standard.

Im Ergebnis verquicken sich für Nutzer Fragen nach der Hoheit über persönliche Daten und der Sicherheit des bei FinTech oder BigTech angelegten Ersparten in der nächsten Finanzkrise. Das im 19. Jahrhundert etablierte Währungsmonopol der Staaten steht ebenso in Frage wie der Umgang mit Marktmacht alter oder neuer Finanzdienstleister. Eine mögliche Antwort auf diese Fragen könnte die Digitalisierung des staatlichen Bargelds sein: sicher, (teilweise) anonym, öffentlich kontrolliert und online. Viele Fragen sind dabei aber noch offen. Der Rest dieses Artikels schildert zunächst die Umbrüche die zur Zeit im Finanzsektor stattfinden, um im Anschluss das Für- und Wider von digitalem staatlichen Bargeld zu analysieren.

Umbrüche im Finanzsektor

Der traditionelle Bankensektor verarbeitet insbesondere in Europa noch die Folgen des Crashs von 2008 und der Eurokrise, sowie die Anpassung an ein neues Regulierungsregime. Viele Banken konnten aus ihren Altlasten nach der Krise nicht herauswachsen, da die Kreditnachfrage von Haushalten und Unternehmen infolge der unsicheren ökonomischen Aussichten und fehlender fiskalischer Impulse schwach blieb. Der Großteil der Banken hat daher mit niedriger Profitabilität zu kämpfen, wodurch Ressourcen für Investitionen in die Digitalisierung und Erneuerung veralteter IT-Systeme knapp sind (Sachverständigenrat, Jahresgutachten 19/20, 4. Kapitel).

Doch die Anpassung unseres Geld- und Zahlungssystems an die digitalisierte Welt drängt. Online-Käufe werden binnen Sekunden getätigt, aber Überweisungen dauern im internationalen Zahlungsverkehr mehrere Tage. Der E-Commerce macht mittlerweile 10,8 Prozent des gesamten deutschen Einzelhandels aus, Tendenz steigend. Das wirkt sich auch auf die Nutzung von Bargeld aus: Nur noch 18 Prozent aller Ausgaben der Haushalte werden mit Bargeld beglichen (Bundesbank 2017).

In der Folge wächst die Nachfrage der Kunden nach bequemen und schnellen digitalen Zahlungsmöglichkeiten. FinTechs haben diese Angebotslücke erkannt. Statt des kompletten Programms einer klassischen Geschäftsbank bieten sie spezialisierte Finanzdienstleistungen wie die Zahlungsverkehrsabwicklung im E-Commerce (z.B. Wirecard, Klarna), Zahlungsverkehrsabwicklung international (z.B. Transferwise), Neo-Banking (z.B. N26, SolarisBank), Anlagevermittlung, spezielle Kreditdienstleistungen, oder Kryptobörsen. Finden sie in ihrer Nische Erfolg, wird diese teils verlassen. Neo-Banken wie N26 etwa beginnen oft mit der Bereitstellung einer App und dem Interface für den Endkunden. Das eigentliche Finanzgeschäft läuft im Hintergrund über ein Drittunternehmen mit Banklizenz und Infrastruktur wie z.B. Wirecard. Erst mit wachsendem Kundenstamm und Ressourcen wird eine eigene Lizenz beantragt und vollwertige Banksysteme eingerichtet.

Zusätzlich stoßen mittlerweile auch “BigTechs” wie Amazon, Google und Apple in die Finanzbranche vor. Sie verfügen bereits über immense finanzielle Ressourcen, leistungsfähige digitale Infrastruktur und einen großen Kundenstamm. Die Erweiterung ihrer Plattformen um Finanzdienstleistungen läuft durch den „Lock-In“-Effekt noch schneller. Kunden können in einer einzelnen Anwendung einkaufen, kommunizieren und ihre Finanzen verwalten. Dies ist bequem. Der Faktor „Convenience“ ist beim Kampf um Marktanteile entscheidend.

Die schöne neue Welt der digitalisierten Finanzen hat aber auch Schattenseiten. Denn persönliche Daten und die Privatsphäre sind im Online-Handel für Bürgerinnen und Bürger oft Ware. Neben dem Online-Shop-Betreiber greifen die jeweiligen Zahlungsdiensteanbieter bei jeder Online-Bezahlung auf Transaktions- und Kaufdaten zu.

Überdies besitzen viele Tech-Firmen (bisher) keine Vollbanklizenz und entgehen so den damit einhergehenden regulatorischen Anforderungen. Daher sind Einlagen, Guthaben oder in Abwicklung befindliche Zahlungen im Falle von Insolvenz oder Finanzmarktturbulenzen nur bedingt sicher. Diese Unsicherheit begünstigt unter Umständen Krisen, wenn Menschen Vertrauen verlieren und es zum Bank Run kommt.

Für Unternehmen und Einzelhändler ist der digitale Zahlungsverkehr überdies mit teils hohen Gebühren verbunden. Denn die großen Zahlungsdienstleister wie PayPal, Visa oder SofortBezahlung sind zwar für Endkunden umsonst, der Anbieter muss aber die Nutzung bezahlen. Insbesondere Überweisungen über (Währungs)Grenzen sind kostspielig, da hier im Zusammenspiel mehrerer Institute (z.B. als Korrespondenzbanken) Compliance-Kosten z.B. in der Geldwäscheprävention steigen. Im analogen Handel halten sich viele Einzelhändler daher offen, kleine Beträge nur in Bargeld anzunehmen.

Eine private Währung für die digitale Welt?

Mit der Ankündigung von Libra ging Facebook im vergangenen Jahr ein Stück weiter als der Rest der FinTech Branche. Der Zusammenschluss von geplant 100 privaten Unternehmen aus den Bereichen Technologie und Finanzwirtschaft in der “Libra Association” sollte ein weltweites Währungssystem schaffen, das global Zahlungen sekundenschnell und kostengünstig ermöglicht (vgl. Libra White Paper, Juni 2019). Die Pläne haben heftige Gegenwehr von Politik, Aufsehern und Zivilgesellschaft hervorgerufen. Denn Libra birgt nicht nur Möglichkeiten und Risiken für Unternehmen und Verbraucher, sondern könnte perspektivisch das Währungsmonopol der Staaten selber herausfordern. Grund ist insbesondere die extreme Verbreitung von Facebook, Instagram und WhatsApp mit insgesamt fast 3 Milliarden Nutzern.

Dabei entstehen zwei Probleme: Erstens werden geldpolitische Werkzeuge weniger wirkmächtig, wenn durch eine private Alternative die Bedeutung der offiziellen Währung für den Zahlungsverkehr und die Wirtschaft eines Landes schrumpft. Insbesondere für Staaten mit volatilen Währungen und schwachen Finanzsystemen würde Kapitalflucht begünstigt, wodurch der Druck auf lokale Währungen weiter zunähme — gerade in Krisensituationen.

Zweitens erhielte die Libra Association als privater Akteur enorme Macht, um sowohl die Volkswirtschaft als auch das Verhalten staatlicher Akteure in seinem Sinne zu beeinflussen: eine aus demokratietheoretischer Perspektive höchst problematische Machtverschiebung.

Die Verantwortung für systemische Risiken würde jedoch wahrscheinlich bei der öffentlichen Hand verbleiben. Denn aufgrund der festen Bindung an einen Währungskorb könnte die Libra Association kein eigenes Geld schöpfen, ohne die propagierte Sicherheit und Stabilität der eigenen Währung in Form eines festen Kurses zu Währungen wie Euro oder Dollar aufzugeben, was wiederum Vertrauen schwächen und eine Krise verschlimmern könnte. Wenn gleichzeitig viele Unternehmen und Konsumenten (irgendwann) auf die Zahlungsmöglichkeit mit Libra angewiesen sind, wäre eine Rettung durch öffentliche Gelder wahrscheinlich — ein Dilemma ähnlich dem “Too-Big-To-Fail”-Problem im traditionellen Finanzsektor.

E-Euro to the rescue?

In der analogen Welt löst bisher das Bargeld eine Reihe der skizzierten Probleme. Es ist im Gegensatz zu von Banken geschaffenem Giralgeld auf Konten in einer Krise bedingungslossicher, da es nicht von der Solvenz privater Finanzinstitute (bzw. der Höhe der Einlagensicherung) abhängt. Auch ermöglicht es anonyme Zahlungen ohne Datenspur, was im Alltagsverkehr die Privatsphäre schützt. Zusätzlich fallen bei baren Zahlungsvorgängen keine Gebühren für einzelne Transaktionen an (lediglich Kosten für den Betrieb von Bargeldautomaten und Bargeldtransport). Der Staat stützt durch die Versorgung mit Bargeld in eigener Währung sein Währungsmonopol und fährt Seignorage-Gewinne in Millionenhöhe ein (Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst, 2019).

Vielfach wird daher gefordert, der Staat müsse das Bargeld in das digitale Zeitalter überführen und Zentralbankgeld künftig auch digital anbieten (dies wird gängig als Central Bank Digital Currency, kurz CBDC, beschrieben). So hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Kontext der Libra-Ankündigung digitales Zentralbankgeld angeregt und auch die EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist der Idee eines digitalen Euros nicht abgeneigt. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) forschen 70 Prozent der Zentralbanken weltweit an digitalen Zentralbankwährungen. China kündigte bereits für Herbst 2019 an, ein digitales Zentralbankgeld auf den Weg zu bringen. Zuletzt haben die EZB sowie die Zentralbanken von Kanada, UK, Japan, Schweden und der Schweiz mit der BIZ eine umfassende Kooperation zu CBDC gestartet.

Dabei ist bisher nicht einheitlich definiert, was genau mit digitalem Zentralbankgeld gemeint ist. Rein technisch gibt es digitales Zentralbankgeld schon heute in Form der Einlagen von Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Neu ist die Debatte über einen direkten Zugriff von Bürgerinnen und Bürgern. Denn analoges Bargeld ist für Haushalte und Unternehmen die bisher einzig zugängliche Form von Zentralbankgeld.

Sowohl die Abwägung über eine Öffnung von digitalem Zentralbank, als auch die konkrete technische Ausgestaltung werfen dabei Fragen auf. Unklar sind beispielsweise die zu nutzende Technologie, die Form des Zugangs für Unternehmen und Haushalte, die Skalierbarkeit des Systems, die Möglichkeit anonymer Zahlungen, die Möglichkeit internationaler Überweisungen sowie eine etwaige Höchstgrenzen für Einzelpersonen. Zu bedenken sind außerdem mögliche Wechselwirkungen mit dem Geschäftsbankensektor, die rechtlichen Grenzen des Zentralbankmandats und die Erfüllung sekundärer Aufgaben im Zahlungsverkehr wir Sorgfaltspflichten (z.B. Know-You-Customer-Prüfungen) der Geldwäscheprävention.

Dennoch kristallisieren sich in der Literatur zwei grundlegende Modell-Ansätze für digitales Zentralbankgeld heraus (siehe auch Hanl und Michaelis 2019).

Ein-Ebenen-Modell: Zentralbankgeld für Jedermann 

In diesem Modell können Haushalte und Unternehmen digitales Zentralbankgeld direkt bei der Zentralbank halten (z.B. Bindseil, 2020) oder Theobald und Tober, 2018). Technisch kann dies in Form von Bürgerkonten bei der Zentralbank (identitätsbasiertes System) oder Wallets auf einer Blockchain im Fall eines Krypto-Euros (wertbasiertes System) geschehen.

Bürgerkonten unterscheiden sich technisch nicht von jetzigen Konten der Geschäftsbanken bei der EZB. Auch rechtlich sind sie unproblematisch, denn das Gesetz erlaubt der Zentralbank Geschäfte mit Jedermann (§19(2) und §22, BbankG). Die Anzahl der Konten bei der EZB würde sich von ca. 10 000 auf 300 bis 500 Millionen erhöhen (Bindseil, 2020).

Alternativ könnte digitales Zentralbankgeld auch mithilfe der Blockchain-Technologie emittiert werden. Die Euro-Token würden in Wallets gehalten werden und die Zentralbank betriebe eine geschlossene Blockchain. Identifizierung und Zugang zur Blockchain müssten somit über die Zentralbank verlaufen. In diesem wertbasierten System basieren Transaktion auf der „Unfälschbarkeit“ bzw. der „Echtheit“ der Euro-Token und nicht auf der geprüften Identität des Eigentümers. Bargeld ist ebenfalls eine Form des Tokens, da die „Echtheit“ des Geldes auf der Echtheit der Münze oder des Scheins basiert (Wasserzeichen etc.) und nicht auf der verifizierten Existenz der Gegenpartei.

„Anonymität“ als Datenschutz gegenüber privaten Unternehmen wäre in jeder Ausführung des Ein-Ebenen-Modells gewährleistet. Ob Anonymität auch gegenüber öffentlichen Instanzen in einem geschlossenen Blockchain-Modell gewünscht ist, ist aus regulatorischen Anforderungen und geldwäscherechtlichen Bedenken heraus anzuzweifeln. Darüber hinaus würde das Ein-Ebenen-Modell sowohl das Problem der privaten Intermediäre und damit verbundener Gebühren, als auch den Zugang zu öffentlichem Geld im digitalen Zahlungsverkehr lösen.

Im internationalen Zahlungsverkehr könnten unterschiedliche öffentliche CBDC-Systeme durch technische Schnittstellen verbunden werden. So wären Überweisungen zwischen Währungsräumen einfach möglich. Offen ist allerdings die Organisation von geldwäscherechtlichen Sorgfaltspflichten wie die Identifikation von Kunden bzw. das Monitoring möglicherweise riskanter Transaktionen, die international einen großen Kostenpunkt darstellen.

Insofern als jede Person und jedes Unternehmen allerdings nur genau ein Zentralbankkonto erhielte und sich bei dessen Eröffnung ausweisen muss, wäre auch das Risiko intransparenter Kontoinhaber gemildert. Das Transaktionsmonitoring könnte — wie schon heute bei privaten Instituten — IT-gestützt ablaufen. Verdächtige Bewegungen würden angehalten und an die Zentralstelle der Geldwäschebekämpfung (Financial Intelligence Unit) gemeldet. Entstehende Mehrkosten könnten mit Zentralbankgewinnen verrechnet werden.

Zwei-Ebenen-Modell: Die Intermediäre bleiben an Bord

In einem Zwei-Ebenen-Modell würden Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen ihr digitales Zentralbankgeld auf Extrakonten (Wallets) bei Geschäftsbanken oder anderen Wallet- bzw. Zahlungs-App-Providern halten (z.B. EUROchain 2019, Bank of England 2020). Diese wären als Verbindlichkeit der Zentralbank verbucht und würden wie Bargeld auch von dieser garantiert. Die Zentralbank hätte als Betreiber des (blockchainbasierten) Modells die Übersicht über das Gesamtvolumen der emittierten Euro-Token. Die Geschäftsbanken oder Wallet-Provider würden allerdings die Zahlungsabwicklung und entsprechende Sorgfaltspflichten (KYC, etc.) durchführen und ihre Applikationen über eine offene API mit dem System der Zentralbank verbinden. Die Zentralbank könnte nicht sehen, wo wer die jeweiligen Euro-Token hält, hätte aber auch einen geringeren Aufwand, ihre Infrastruktur auszudehnen. Erst dieses Jahr wurde in Deutschland eine Kryptoverwahrlizenz für Geschäftsbanken eingeführt, die solche Modelle ermöglichen würden.

In diesem Modell wären Kunden weiterhin auf private Finanzintermediäre mit entsprechenden Gebühren — auch für die Bereitstellung der E-Euro-Konten — angewiesen. Transaktionsdaten wären den privaten Firmen zugänglich. Diese Variante wäre insofern nur eine partielle Lösung und würde lediglich das Problem des sicheren/staatlichen digitalen Geldes lösen. Sie wäre dafür ein geringerer Umbruch für das bestehende Finanzsystem.

Probleme im digitalen Zahlungsverkehr Lösung durch E-Euro im Ein-Ebenen-Modell? Lösung durch E-Euro im Zwei-Ebenen-Modell?
Zugang zu sicherem Geld Ja Ja
Datenschutz Teils (gegenüber privaten Firmen) Nein
Teilweise hohe Kosten Ja Eher nein
Gefährdung staatliches Währungsmonopol Ja Ja

Der nächste Crash: Ein digitaler Bank Run?

Die Bundesbank und Verbände der Kreditwirtschaft fürchten einen digitalen Bank Run und eine ernsthafte Schwächung des Geschäftsmodells der Geschäftsbanken im Falle der Einführung von digitalem Zentralbankgeld (z.B. DSGV, 2020). Denn würden Bankkunden bei der Zentralbank mehr Sicherheit und geringere Kosten erwarten, könnten sie ihr Geld aus dem traditionellen Banksystem abziehen und so unter Umständen die Finanzierungskosten der Banken erhöhen. Dabei refinanzieren sich schon heute Geschäftsbanken nur zu 20 Prozent über Kundeneinlagen und weit mehr über den Interbankenmarkt (Theobald und Tober, 2018).

Wenn das digitale Zentralbankgeld unverzinst bleibt, bestünde überdies kein Anreiz für Bankkunden, ihre Spareinlagen von positiv verzinsten Konten abzuziehen. Der Verzicht auf Zinsen bei der Zentralbank könnte gesetzlich verankert werden. Auch mengenmäßige Beschränkungen von Bürgerkonten wären denkbar, um abrupte Schocks zu vermeiden. Und die Kreditvergabe bliebe ebenso im Geschäftsbankensektor. Dabei wäre sogar denkbar, dass die Stabilität des Bankensystems perspektivisch zunimmt, wenn der Zahlungsverkehr der Realwirtschaft nicht mehr in jedem Fall durch große Bankenpleiten bedroht wäre und Risiken ohne implizite Staatsgarantie eher eingepreist würden (z.B. Gudmundsson, 2016).

Als weiterer Kritikpunkt gegen einen E-Euro für den Massenmarkt wird angeführt, dass die Zentralbank weder die unternehmerische Kreativität noch die (IT-)Ressourcen besäße, ein solches System effizient zu unterhalten. Das Argument ist ernstzunehmen. Erste Modellvorschläge von Zentralbanken tendieren daher mehr in Richtung des Zwei-Ebenen-Modells, welches privaten Finanzinstituten eine größere Rolle belässt (Bank of England 2020, Auer und Boehme 2020).

Die Verfügbarkeit von Ressourcen ist aber eine politische Frage, die es gegen die Kosten des Status Quo abzuwägen gilt. Überdies wäre denkbar, die Bürgerkonten auf ein funktionales Basismodell zu begrenzen und gleichzeitig privaten Anbietern zu ermöglichen, zusätzliche Funktionalitäten (wie Budgetplanung) durch Apps auf Basis der Kundendaten anzubieten. So hätten Nutzer die Wahl, ihre Daten für mehr Komfort auch Dritten zugänglich zu machen, oder allein im öffentlichen System zu belassen.

Ein positiver Nebeneffekt eines öffentlichen Zahlungssystem könnte zudem darin bestehen, die europäische Ökonomie robuster gegenüber externem Einfluss wie den amerikanischen Iran-Sanktionen zu machen. Thießen und Jehmlich (2018) etwa argumentieren, dass die Zentralbank als zentrale Gegenpartei von Transaktionen die beste Chance wäre, um extraterritorialen Sanktionen zu begegnen. 

Fazit: “form follows function”

Bargeld erfüllt wichtige Wirtschaftsfunktionen. Zugriff für Bürgerinnen und Bürger auf elektronisches Zentralbankgeld kann diese Vorteile in der digitalen Finanzwelt erhalten. Dabei sollte gelten: “form follows function”, denn technisch ist mittlerweile fast alles möglich. Viele Modelle würden die Rolle der Zentralbank fundamental ändern. Sie würde nun direkt öffentliche Dienstleistungen wie ein Zahlungsverkehrssystem auch für Endkunden bereitstellen. Ob dies im Angesicht der dargelegten Herausforderungen wünschenswert ist, bleibt eine politische Entscheidung.

Ökonomisch und politisch spricht viel dafür, mindestens das staatliche Währungsmonopol in öffentlicher Hand zu verteidigen. Dies wäre unter Umständen durch effektive Regulierung von Projekten wie Libra möglich. Möglicherweise braucht es aber auch öffentliche Alternativen, um die Marktmacht von Quasi-Monopolisten wie Facebook zu begrenzen.

Kern der Abwägung ist daneben die Frage, welcher Teil der Finanzinfrastruktur als öffentliche Daseinsvorsorge ohne Risiko und in informationeller Selbstbestimmung allen Menschen offen stehen soll. Hier bleibt die Lehre aus der Finanzkrise von 2008 relevant, dass Märkte und insbesondere Marktaustritt schlecht funktionieren, wenn die externen Kosten für den Rest der Wirtschaft enorm sind. Auch geld- und finanzpolitische Neuerungen wie das im Rahmen der Corona-Krise wieder verstärkt diskutierte Helikoptergeld würden unter Umständen durch einen E-Euro leichter umsetzbar. Denn jede Zuweisung an alle Bürgerinnen und Bürger braucht eine zentrale Kontoinfrastruktur, zum Beispiel bei der Zentralbank.

Wie genau ein E-Euro technisch aussehen und funktionieren könnte, ist derzeit Gegenstand intensiver Debatten und Forschungsprojekte in den Zentralbanken und darüber hinaus (siehe Bank of England 2020 für detaillierten Hintergrund). Zentral für die öffentliche Debatte bleibt dabei die politische Frage des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen von Realwirtschaft, Finanzunternehmen und Verbrauchern sowie dem übergeordneten Ziel der Finanz- und Währungsstabilität.


Quellen:

Auer, R. und Boehme, R., The technology of retail central bank digital currency, March 2020, BIS Quarterly Review, https://www.bis.org/publ/qtrpdf/r_qt2003j.htm

Bindseil, U., Tiered CBDC and the financial system, January 2020, Working Paper Series No. 2351, https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecb.wp2351~c8c18bbd60.en.pdf 

Bank of England,Central Bank Digital Currency Opportunities, challenges and design, March 2020, Discussion Paper, https://www.bankofengland.co.uk/-/media/boe/files/paper/2020/central-bank-digital-currency-opportunities-challenges-and-design.pdf

Bundestag, Sachstand: Fragen zu den Geldschöpfungsgewinnen (Seigniorage) der Notenbanken, WD 4 – 3000 – 131/19, November 2019, https://www.bundestag.de/resource/blob/675118/d03c07163dec8ece7a6479fedbb3f94a/WD-4-131-19-pdf-data.pdf 

Deutsche Bundesbank, Distributed- Ledger- Technologien im Zahlungsverkehr und in der Wertpapierabwicklung: Potenziale und Risiken, Monatsbericht September 2017, https://www.bundesbank.de/resource/blob/665446/cfd6e8fbe0f2563b9fc1f48fabda8ca2/mL/2017-09-distributed-ledger-technologien-data.pdf 

DSGV, Standpunkt: Digitales Zentralbankgeld: Fluch oder Segen?, Februar 2020 https://www.dsgv.de/positionen/standpunkte-der-chefsvolkswirte/ezb-digitales-zentralbankgeld.html 

Eurochain, Exploring anonymity in central bank digital currencies, In Focus issue No 4, Dezember 2019, https://www.ecb.europa.eu/paym/intro/publications/pdf/ecb.mipinfocus191217.en.pdf 

Gudmundsson, T., Whose Credit Line is it Anyway: An Update on Banks’ Implicit Subsidies, Internationaler Währungsfonds, November 2016, https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2016/wp16224.pdf 

Hanl, A., Michaelis, J., Digitales Zentralbankgeld als neues Instrument der Geldpolitk, 2019, Wirtschaftsdienst, 99. Jahrgang, 2019, Heft 5, S. 340–347, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2019/heft/5/beitrag/digitales-zentralbankgeld-als-neues-instrument-der-geldpolitik.html 

Libra Association, Libra White Paper, Juni 2019, https://libra.org/en-US/wp-content/uploads/sites/23/2019/06/LibraWhitePaper_en_US.pdf 

Sachverständigenrat, Jahresgutachten 19/20, Oktober 2019, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201920/JG201920_Gesamtausgabe.pdf

Theobald, T., Tober, S., Geldpolitische Herausforderungen: Zinspolitische Wende, sichere Staatsanleihen und digitaler Euro, IMK Report 135, März 2018, https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_135_2018.pdf 

Thießen, F., Jehmlich, T., Iran-Sanktionen, internationaler Zahlungsverkehr und Reformvorschläge aus europäischer Sicht, Chemnitz Economic Papers, No. 023, October 2018, https://www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/vwl1/RePEc/download/tch/wpaper/CEP023_Iran_Sanktionen.pdf

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