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7. Mai 2020
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Eva Ricarda Lautsch

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Deutungshoheit in der Rechtsgemeinschaft: ein juristischer Kommentar zum PSPP-Urteil

8 min Lesezeit

EVA RICARDA LAUTSCH

Mit seinem Urteil vom 5. Mai 2020 zum Public Sector Purchase Programme (PSPP) der EZB hat das Bundesverfassungsgericht die Drohkulisse, einen Akt der europäischen Union für ultra vires zu erklären, d.h. außerhalb der ihr zustehenden Kompetenzen, Wirklichkeit werden lassen.

Gegenstand dieser harschen Beurteilung—die immerhin erfordert, dass die Kompetenzüberschreitung „offensichtlich“ ist—ist allerdings nicht das PSPP als solches. Ultra vires sei vielmehr allein die Begründung des Programms durch die EZB, die dessen wirtschaftspolitische Folgen nicht hinreichend reflektiert und damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt habe. Um zu dieser Beurteilung zu gelangen, musste das Bundesverfassungsgericht auch das Urteil des EuGH, der das Programm im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf seine Vereinbarkeit mit den europäischen Verträgen zu überprüfen hatte, seinerseits für ultra vires und damit für nicht bindend erklären. Den Kompetenzverstoß sieht das Bundesverfassungsgericht sodann auch hier nicht in der materiellrechtlichen Bewertung des PSPP als unionsrechtskonform, sondern in einer aus seiner Sicht mangelhaften Prüfung von dessen Verhältnismäßigkeit durch den EuGH.

Kein Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung

Das PSPP, größter Bestandteil des breiter angelegten Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), wurde von der EZB aufgelegt, um die Preisstabilität im Euroraum zu sichern. Im Rahmen dieses Programms kauft die EZB Staatsanleihen von Eurozonenländern.[1] Die Verfassungsbeschwerden, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte, rügen im Wesentlichen einen Verstoß des Programms gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV). Diesen Vorwurf sieht das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis jedoch als nicht begründet an.

Mangelhafte Verhältnismäßigkeitsprüfung ultra vires?

Also alles gut? Nein, denn obwohl das PSPP keine monetäre Staatsfinanzierung darstellt gab es, laut dem Bundesverfassungsgericht, einen Akt ultra vires.[2] In der Sache geht es dabei weder bei dem angegriffenen Urteil des EuGH noch in Bezug auf das PSPP um eine materielle Kompetenzüberschreitung, sondern um eine Begründungstechnik: die der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Urteil über viele Randnummern (155 ff.) aus, warum die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung inklusive einer „wertenden Gesamtbetrachtung“ für die Wahrung unionsrechtlicher Kompetenzen zwingend erforderlich sei – nämlich als Instrument zur „effektiven Kompetenzkontrolle“ (Rn. 163). Es unterstellt dem EuGH, durch die Missachtung dieser Methode der EZB den Freiraum belassen zu haben, entgegen der unionsrechtlichen Kompetenzordnung eine eigene Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Ein Ausnutzen dieses Freiraums, also eine Überschreitung der Kompetenzordnung im Sinne eines Ultra-vires-Akts, kann zwar aktuell nicht angenommen werden. Es geht nicht darum, dass die EZB tatsächlich ihre Kompetenzen überschritten und der EuGH dies nicht hinreichend gerügt hätte, denn in dieser Frage—ob das PSPP in kompetenzwidriger Weise den Bereich der Währungspolitik verlässt—gelangen EuGH und Bundesverfassungsgericht zum selben negativen Ergebnis.

Stattdessen äußert das Bundesverfassungsgericht die Sorge, dass etwaige künftige Kompetenzverstöße aufgrund einer nicht oder nur mangelhaft durchgeführten Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht feststellbar sein könnten. Befürchtet werden insbesondere „nicht sofort ins Auge springende—schleichende—Kompetenzerweiterungen“ (Rn. 156). Die Kompetenzerweiterung selbst läge allerdings in einem anders gelagerten, in der Zukunft zu entscheidenden Fall auf der ersten Ebene nicht in einem Urteil des EuGH, sondern in der zu überprüfenden Maßnahme oder dem zu überprüfenden Rechtsakt. Der EuGH ist zwar in der Tat, wie auch die EZB, gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Im Ergebnis sind sich EuGH und Bundesverfassungsgericht aber jedenfalls darin einig: Das PSPP ist zumindest nicht offensichtlich unverhältnismäßig, was aber für die Annahme einer Kompetenzüberschreitung ultra vires erforderlich wäre. Das Bundesverfassungsgericht beharrt lediglich auf einer bestimmten Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung, innerhalb derer insbesondere eine „wertende Gesamtbetrachtung“ vorgenommen wird. Die Abweichung von der Verhältnismäßigkeitsprüfung als einer bestimmten Technik der Urteilsbegründung kann aber allein nicht ultra vires sein.

Materiellrechtliche Kriterien des Urteils

Im Rahmen der Prüfung, ob das PSPP dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung zuwiderläuft, formuliert das Bundesverfassungsgericht dann allerdings erhebliche materielle Anforderungen (insbes. Rn. 217): Die Ankaufobergrenze von 33 % und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der EZB sollen „die entscheidenden „Garantien“ [sein], an denen sich die mangelnde Offensichtlichkeit eines Verstoßes gegen das Umgehungsverbot aus Art. 123 AEUV festmachen lässt.“

Mit anderen Worten: Insbesondere Ankaufobergrenze und Kapitalschlüssel verhindern eine Beurteilung des Programms als Kompetenzüberschreitung ultra vires. Ob diese Anforderungen tragfähig und sinnvoll für zukünftige Entscheidungen sind—etwa bezüglich des in der Coronakrise aufgelegten Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP)—, muss sich erweisen. Bis zur Coronakrise mögen Ankaufobergrenze und Kapitalschlüssel weitgehend konsentierte Kriterien gewesen sein, die zur Abgrenzung von monetärer Staatsfinanzierung dienten. Dass sich hier die Bedingungen jedoch möglicherweise verändert haben, zeigt sich bereits daran, dass die EZB seit Beginn der Coronakrise auch schon im Rahmen des PSPP von diesen Kriterien erheblich abweicht. Sofern sich das Bundesverfassungsgericht nun in künftigen Entscheidungen von diesen Kriterien lösen will, um zum Beispiel das PEPP als rechtskonform zu beurteilen, wird dies mit einem erheblichen Begründungsaufwand verbunden sein.

Machtgebärde im „Verfassungsgerichtsverbund“

In der Entscheidung vom 5. Mai 2020 versucht das Bundesverfassungsgericht also in erster Linie, den EuGH zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den von ihm vorgegebenen Maßstäben zu zwingen. Zur Rechtfertigung dient ihm das Argument, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung handle es sich um einen „allgemeinen, in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV kodifizierten Rechtsgrundsatz des Unionsrechts“ (Rn. 124). Dass dieser seine Wurzeln „vor allem im deutschen Recht“ hat, erkennt es selbst an. In dem scharfen Ton, den es dabei anschlägt, werden die Differenzen zwischen Erstem und Zweitem Senat offenbar: Während der Erste Senat in seiner Entscheidung zum Recht auf Vergessen noch die „Integrationsverantwortung“ des Bundesverfassungsgerichts betont hatte, stützt der Zweite Senat seine Selbstbehauptung gegenüber dem EuGH auf die Vorstellung eines Verfassungsgerichtsverbunds (vgl. Rn. 111), die in der Tendenz eher von einem Kooperationsverhältnis und strukturellem Nebeneinander von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten ausgeht.

Ein solcher Verfassungsgerichtsverbund begegnet jedoch aktuell—allein schon mit Blick auf Polen und Ungarn—erheblichen Problemen. Diese müssen auch dem Zweiten Senat vor Augen stehen, sodass der Verdacht naheliegt, dass hinter der Vorstellung vom Verfassungsgerichtsverbund nicht wirklich die Erwartung steht, dass alle Verfassungsgerichte gemeinsam mit dem EuGH kooperativ die Auslegung des europäischen Rechts entwickeln. Eher handelt es sich um eine Machtgebärde, mit der die eigene verfassungsrechtliche Praxis durchgesetzt werden soll.

Durchsetzung eines „Grundrechts auf Demokratie“?

Die Entscheidung ergeht auf dem Pfad des zum „Grundrecht auf Demokratie“ ausgebauten Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz. In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht Kriterien wie den „Einflussknick“ und die Unterbrechung demokratischer „Legitimationsketten“ entwickelt, um zu prüfen, ob Maßnahmen und Politiken einer hinreichenden demokratischen Legitimierung entbehren. Warum aber das Bundesverfassungsgericht seinerseits in besonderer Weise legitimiert sein soll, auf der Basis eines für die Bundesrepublik entwickelten Demokratieverständnisses die Demokratie in Europa auf dem Gerichtsweg durchzusetzen, ist nicht klar. Das Bundesverfassungsgericht nutzt diese Konstruktion, um in einem imaginierten Verfassungsgerichtsverbund seiner eigenen, auf dem Grundgesetz basierenden Vorstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur Geltung zu verhelfen.

Entgegen der in seinem Urteil enthaltenen alarmistischen Warnung charakterisieren „schleichende Kompetenzerweiterungen“ seit jeher das Wesen der europäischen Integration und sind als solche zunächst auch nicht grundsätzlich undemokratisch oder sonst illegitim. Die europäische Einigung ist seit ihren Anfängen ein Prozess, der auf immer weitere Integration angelegt ist. Dies ist das Wesen der „ever closer Union“ und zugleich das Bekenntnis, das seit dem Abschluss der Römischen Verträge 1957 in den Präambeln der Gemeinschafts- bzw. Unionsverträge verankert wurde. Um die immer engere politischen Einigung zu erreichen, werden seit ihren Anfängen weite gesetzliche Spielräume genutzt und jenes fortentwickelt, was im Rahmen des Kompromisses zwischen den Mitgliedstaaten auf politischer Ebene zunächst nicht erreicht werden konnte.

Selbstverständlich ergeben sich in diesem Integrationsprozess Probleme der demokratischen Legitimation von europäischen Institutionen, Gesetzen und Maßnahmen—insbesondere derer Institutionen, die nicht direkt oder indirekt vom Volk gewählt und so legitimiert werden, wie z.B. die EZB. Allerdings werden in der Bundesrepublik mehrheitlich politische Parteien gewählt, die sich – im Grundsatz – nicht nur zu Europa, sondern auch zu diesem Integrationsprozess bekennen. Zusätzlich ist die umfassende eigene demokratische Legitimation der europäischen Ebene auch aus der Sicht der deutschen Politik erstrebenswert und notwendig. Sie wird allerdings erst erreicht werden können, wenn an die Stelle der funktionalistischen Integration eine—politische—Einigung in den Mitgliedstaaten über die Gestalt der Europäischen Union tritt, die auch mit Blick auf die Währungsunion nachhaltig ist. Im aktuellen Stadium der europäischen Einigung legt das Bundesverfassungsgericht den Finger durchaus in eine Wunde, sofern es den EuGH zu einer effektiven Kontrolle der EZB ermahnt. Sich diese Kontrolle aber selbst anzumaßen, indem das Bundesverfassungsgericht die EZB mit formellen Begründungsanforderungen deutsch-verfassungsrechtlichen Zuschnitts konfrontiert, dürfte seinerseits mit guten Argumenten als Kompetenzüberschreitung bewertet werden.

Deutungsansprüche in der Rechtsgemeinschaft

Im Rahmen der Verkündung des Urteils beschwört der scheidende Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle die „Idee der europäischen Rechtsgemeinschaft“: Diese verliere „in der Krise nichts an ihrer Bedeutung“. Auch hier handelt es sich um eine in ihrem Kern deutsche Idee, im europarechtlichen Kontext geprägt durch den ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein. Die Gemeinschaft vom Recht her zu denken entsprach und entspricht bis heute einem deutschen Staatsverständnis, das Hallstein geschickt für die europäische Einigung fruchtbar zu machen wusste. Dabei wurde allerdings auch gezielt das noch kaum entwickelte, ungeformte europäische Recht durch dogmatische Konstruktionen zu einem Integrationsinstrument ausgebaut (s. von Bogdandy 2017, S. 490). Der Erfolg dieser Herangehensweise zeigt sich nicht zuletzt in der bisweilen aktivistisch anmutenden Rechtsprechung des EuGH, welche die Grenzen der Integration in der Vergangenheit oft erweitert und die Verträge zu einer eigenständigen Rechtsordnung geformt hat. Im PSPP-Urteil geht es vor allem um die Deutungshoheit über diese Idee der Rechtsgemeinschaft—die das Bundesverfassungsgericht nicht aus der Hand geben will.


[1] Zusätzlich außerdem vergleichbare marktfähige Schuldtitel von „anerkannten Organen“, internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz innerhalb des Euro-Währungsgebiets.

[2] Ultra vires bedeutet „jenseits der Gewalten“, d.h. außerhalb der rechtlichen Kompetenzen liegend.

Picture credit: MehrDemokratie, unter Attribution-ShareAlike 2.0

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