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11. September 2020
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Florian Fastenrath

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Großtrend Finanzialisierung: Kommunen und die Finanzwelt – Begegnung auf Augenhöhe? Teil 1: Hintergrund & LOBOs

9 min Lesezeit
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FLORIAN FASTENRATH, ARMIN MERTENS, SEBASTIAN MÖLLER, REBECA WANGEMANN

Finanzialisierung des Staates auf allen Ebenen

Als Großtrend unserer Zeit erfasst Finanzialisierung — allgemein verstanden als die zunehmende Bedeutsamkeit von Finanzmärkten, Finanzakteuren, Finanzinstitutionen, Finanzmotiven und -logiken für das Funktionieren der nationalen und internationalen Wirtschaft — alle kapitalistischen Gesellschaften und ruft tiefgreifende Veränderungen hervor.[1] Forscher:innen aus unterschiedlichen Disziplinen haben vor allem die Finanzialisierung der Wirtschaft als Ganzes, der Nicht-Finanz-Unternehmen sowie der Haushalte analysiert. Die Finanzialisierung von Staaten ist im Vergleich dazu weit weniger erforscht, obwohl die Veränderungen hier nicht weniger bedeutsam sind.

Erst in jüngster Zeit nehmen Studien aus der Politischen Ökonomie, Wirtschaftsgeographie, Soziologie und Politikwissenschaft Prozesse der Staatsfinanzialisierung systematisch in den Blick.[2] Das Schließen dieser Forschungslücke ermöglicht neue Einblicke in die komplexe Beziehung zwischen Staaten und Finanzmärkten. Regierungen haben mit der Deregulierung des Finanzsektors seit den 1980er Jahren nicht nur die Finanzialisierung der Wirtschaft (wenn auch unbeabsichtigt) vorangetrieben (Finanzialisierung durch den Staat), auch staatliche Akteure selbst übertragen zunehmend Logiken, Kulturen und Praktiken, die typischerweise dem Finanzsektor zugeschrieben werden, auf den öffentlichen Sektor und die Politikgestaltung (Finanzialisierung des Staates).

Von den zahlreichen Politikfeldern, in denen dieser Prozess sichtbar wird, sticht der Umgang mit Staatsfinanzen besonders hervor. So haben unterschiedliche Autor:innen die weitreichenden Veränderungen hin zu einem finanzialisierten staatlichen Schuldenmanagement dargelegt.[3] Viele Staaten sind von einer „passiven Schuldenverwaltung“ hin zu einem finanzmarktbasierten „aktiven Schuldenportfolio-Management“ übergangen. Während der bis in die 1980er Jahre praktizierte Ansatz noch makroökonomische Ziele wie Verteilung und Stabilisierung einschloss, ist der finanzialisierte Ansatz einzig und allein an der Optimierung (d.h. Kostenminimierung) des Schuldenportfolios eines Staates interessiert. Hierfür werden alle Register der komplexen Finanzmärkte gezogen: Dazu zählt die institutionelle Umstrukturierung (Gründung neuer Schuldenagenturen, die dem klassischen Aufbau von Finanzinstituten folgen und die Personal aus dem Finanzsektor beschäftigen) sowie die Nutzung komplexer Finanzinstrumente wie Derivate.

Einzelne Facetten dieses Prozesses im Bereich des Schuldenmanagements sind nicht auf die nationale Ebene beschränkt, sondern sind ebenso bei Kommunen beobachtbar.[4] Amerikanische und europäische Städte haben seit Mitte der 1980er Jahre und dann vermehrt in den 2000ern risikobehaftete Finanzinnovationen wie Zinsswaps (in unterschiedlichen Komplexitätsgraden) in ihrem Schuldenmanagement eingesetzt.[5] Die damit verbundenen Hoffnungen auf einen größeren finanziellen (und damit politischen) Spielraum in Zeiten von Austerität und zunehmendem Standortwettbewerb haben sich jedoch selten erfüllt.

Im Gegenteil, gerade im Zuge der Finanzkrise und der unerwartet lang andauernden Niedrigzinsphase haben die neuen Finanzinstrumente in vielen Kommunen finanzielle Schäden verursacht. So erlitten viele deutsche, aber auch amerikanische, französische, österreichische oder italienische Städte hohe Verluste und verschlechterten hierdurch ihre ohnehin schon prekäre finanzielle Situation. Die Finanzialisierung des kommunalen Schuldenmanagements birgt dabei nicht nur finanzielle und juristische Risiken, sie verändert auch langfristig die Denk- und Handlungsweisen der öffentlichen Verwaltung. Dies wiederum kann das Vertrauen in politische Institutionen vor Ort untergraben, was in einigen spektakulären Fällen (z.B. in Pforzheim [6], oder Hagen und Linz [7]) klar erkennbar ist.

Definanzialisierung von britischen Kommunalfinanzen?

Während sich in Deutschland und anderen Ländern diese negativen Entwicklungen kommunaler Derivate nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise häuften, schienen britischen Kommunen — auf den ersten Blick — von solchen Ereignissen verschont. Der Grund hierfür lag jedoch nicht in einer Zurückhaltung seitens Banken und Kommunen, sondern ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass der Abschluss von (eigenständigen) Derivatekontrakten durch Local Authorities — trotz enormer Lobby-Anstrengungen durch die City of London — im Vereinigten Königreich seit Anfang der 1990er Jahre verboten ist.

In den frühen 1980er Jahren waren die britischen Kommunen gar Vorreiter bei der Nutzung von Swaps, mit dem Ziel Zinskosten zu reduzieren. Nach anfänglichen Einsparungen verbuchten allerdings mehrere Kommunalverwaltungen Ende der 1980er Jahre Millionen-Verluste. Im Jahr 1991 verbot die britische Regierung — auch aufgrund eigener fiskalischer und geldpolitischer Interessen — den Local Authorities den Abschluss von Swapgeschäften.[8] Erneute Lobbying-Versuche zur Legalisierung des kommunalen Swapgebrauchs durch die Finanzindustrie während der 1990er Jahre blieben erfolglos. Britische Kommunen verschuldeten sich stattdessen in den 1990er Jahren größtenteils über die risikolose Kreditaufnahme (langläufige Kredite zu fixen Zinssätzen) über den Staat (über das Public Works Loan Board, PWLB). Diese staatliche Kreditbeschaffung verhinderte lange den Eintritt von britischen und internationalen Banken in das Geschäft mit britischen Kommunen. Anders als in Deutschland, war kommunale Verschuldung in Großbritannien dadurch vorübergehend gar nicht mehr marktförmig organisiert.

Diese Tendenz zur Definanzialisierung von kommunalen Finanzen, d.h. eine erneute Unabhängigkeit der Kommunalfinanzen von Finanzmarktentwicklungen, war allerdings nicht von Dauer. Durch so genannte Lender Option Borrower Option (LOBO) Kredite haben Finanzinstitutionen der Londoner City (z.B. Royal Bank of Scotland oder Barclays) sowie deutsche Banken (wie Bayrische Landesbank, Depfa, Dresdner Bank) — unter dem Radar der Öffentlichkeit — Ende der 1990er einen Weg gefunden, wie britische Kommunen wieder zu Teilnehmern an Derivatemärkten werden konnten. Wie die Financial Times (2016) berichtete, umgingen die Banker staatliche Regulierungen durch Financial Engineering: Sie entwarfen eine neue Art von Krediten — LOBOs — für Local Authorities, die durch eingebettete Derivate erneut Finanzmarktrisiken in Kreditverträge einbaute.


Was genau sind LOBOs?

Die Grundlage dieses komplexen Finanzinstrumentes bildet ein langfristiger Kredit, der von Banken an Kommunen vergeben wird. Die durchschnittliche Laufzeit beträgt 40-70 Jahre. Eingebettet in den Kredit sind Derivate, die Optionen für den Gläubiger (Bank) und den Schuldner (Kommune) beinhalten. Die Bank besitzt die Option, die Zinsrate in regelmäßigen Abständen zu verändern (halbjährlich, jährlich oder alle fünf Jahre), während die Kommune im zweiten Zug entscheidet, ob sie die Änderung akzeptiert oder den Kredit kündigt. Für einen Ausstieg muss sie jedoch eine hohe Gebühr leisten, die dem Wert der Bankoptionen über die gesamte Kreditlaufzeit entspricht. Die Bank darf somit als Erste entscheiden, ob und wann sie Gebrauch von ihren Optionen machen möchte, die Kommune hingegen kann nur darauf reagieren. Über die Laufzeit preist die Bank die Lobozinsrate zu ihren Kapitalkosten ein und darf das Finanzprodukt und dessen Optionen außerdem an Investmentbanken weiterverkaufen, was den kommunalen Geschäftspartnern oft gar nicht bewusst war. Damit ist die Bank, im Gegensatz zu ihren Kunden, im Grunde abgesichert. Tatsächlich behielten die meisten Banken nur minimale Risiken in ihren eigenen Büchern. Das Risiko der LOBO loans ist also sehr ungleich verteilt. Um die Stadtverwaltungen von diesem neuen Produkt zu überzeugen, wurden sie mit sogenannten teaser rates ausgestattet, also sehr attraktiven Einstiegszinssätzen, die i.d.R. noch unter den Zinsen der PWLB Kredite lagen. Während die Zinssätze der staatlichen Kredite aber konstant blieben, zogen bei den meisten LOBO loans die Banken rasch ihre Optionen und ließen den Zins über das PWLB Niveau ansteigen.

„The nature of the risk itself means it is the kind of risk that makes traders and hedge fund managers, as I also used to be in the past, wake up at night screaming. It is just horrible stuff. (…) My personal feeling was that I would not do these deals if you put a gun to my head. I asked myself, when I was doing this job, why local authorities are doing them. (…) [I]f I was in their seat, I would not do these deals in a million years, so why are they doing them?”

Robert Carver, Mitentwickler von Lobo loans bei Barclays[9]


Finanzieller Schaden durch LOBOs?

Es ist schwer zu sagen, welche Kosten (und Einsparungen) bei britischen Kommunen insgesamt durch LOBO loans entstanden sind. Eine faire Berechnung müsste sich immer am PWLB-Zinssatz zum Zeitpunkt der Aufnahme eines LOBOs orientieren. Das Risikoprofil der aufgenommenen Kredite unterscheidet sich auch stark von Kommune zu Kommune und zwischen den verschiedenen beteiligten Banken. Einigen Städten sind nachweislich hohe finanzielle Kosten entstanden. Unter zunehmendem öffentlichen Druck wurden auch zahlreiche bestehende LOBO loans in reguläre Kredite umgewandelt, insbesondere die LOBOs von Barclays. Auch bei der Umwandlung dürften die Banken aber in vielen Fällen kein schlechtes Geschäft gemacht haben. Unabhängig von den tatsächlichen Finanzergebnissen der LOBOs haben diese aber erneut eine Verbindung zwischen kommunalen Handlungsspielraum und den Entwicklungen auf globalen Finanzmärkten geschaffen, und so die disziplinierende Wirkung der Finanzmarktrationalität weiter verstärkt.[10]

Im zweiten Teil dieser Serie erklären die Autor:innen wie es dazu kommen konnte, dass LOBO loans – trotz ihres Hochrisikoprofils – von vielen britischen Kommunen abgeschlossen wurden.

Im dritten und letzten Teil werden zum Abschluss die größeren Zusammenhänge der Finanzialisierung des öffentlichen Schuldenmanagements erkundet.


Die Forschung die diesem Artikel zugrunde liegt wurde im Rahmen des Projektes „Gemeinden und ihre Erwartungen an Auszahlungen von Swap-Geschäften” mit DFG Mitteln gefördert.

[1] Mader, P., Mertens, D. and van der Zwan, N., 2020. Financialization: An introduction. In: International Handbook of Financialization, P. Mader, D. Mertens and N. van der Zwan (eds). London: Routledge, 1–16.

[2] Amable, B., Regan, A., Avdagic, S., Baccaro, L., Pontusson, J. and Van der Zwan, N., 2019. New approaches to political economy, Socio-Economic Review, 17 (2), 433–459.; Hendrikse, R. and Lagna, A ., 2018. State Financialization: A multi‐scalar perspective. [Last accessed 14 June 2018]; Karwowski, E., 2019. Towards (de-)financialisation: the role of the state. Cambridge Journal of Economics, 43(4), 1001-1027; Schwan, M., Trampusch, C. and Fastenrath, F., Financialization of, not by the State. Exploring Changes in the Management of Public Debt and Assets across Europe (forthcoming in Review of International Political Economy).

[3] Fastenrath, F. , Schwan, M., and Trampusch, C., 2017. Where states and markets meet: The financialisation of sovereign debt management, New Political Economy, 22 (3), 273–293; Livne, R. and Yonay, Y. P., 2016. Performing neoliberal governmentality: an ethnography of financialized sovereign debt management practices. Socio-Economic Review, 14(2): 339–362.

[4] Deruytter, L., and Möller, S.,2020. Cultures of debt management enter city hall: Financialized rationalities and technologies in european local government. In: International Handbook of Financialization, P. Mader, D. Mertens and N. van der Zwan (eds). London: Routledge, 400–410.

[5] Fastenrath, F., Orban, A., and Trampusch, C., 2018. From economic gains to social losses: how stories shape expectations in the case of German municipal finance. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), 70 (1), 89–116.

[6] Hendrikse, R.P. and Sidaway, J.D., 2014. Financial wizardry and the Golden City: Tracking the financial crisis through Pforzheim, Germany. Transactions of the Institute of British Geographers, 39(2), 195–208.

[7] Möller, Sebastian (2016): When global finance knocks at city hall’s door. Paper presented at the workshop “Interdisciplinary Perspectives on Global Finance” (Bremen, 21-23 September 2016).

[8] Trampusch, C. and Fastenrath, F., 2019. States’ interests as limits to the power finance: regulatory reforms in early local government financialization in the US and UK. Regulation & Governance (online first).

[9] Local council bank loans inquiry (2015): http://data.parliament.uk/writtenevidence/committeeevidence.svc/evidencedocument/housing-communities-and-local-government-committee/local-councils-and-lender-option-borrower-option-loans/oral/18808.html

[10] Möller, Sebastian (2017): Financializing town halls: Local councils, LOBO loans and the derivatives markets. SPERI blog: http://speri.dept.shef.ac.uk/2017/06/25/financializing town-halls-local-councils-lobo-loans-and-the-derivatives-markets/.

Picture credit: Pixabay

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