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9. November 2021
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Florian Kern

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Konjunkturkomponente und Staatsorganisation – warum die Auslastung der Wirtschaft nicht von Ministerien festgelegt werden sollte

8 min Lesezeit
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Florian Kern

Die Definition der Konjunkturkomponente ist eine politische Frage und sollte daher von gewählten Abgeordneten beantwortet werden. Selbst wenn man sich bewusst für eine Entmachtung des Parlaments in dieser Frage aussprechen würde, ist die aktuelle Lösung, bei der BMWi und BMF die Konjunkturkomponente definieren, nicht überzeugend.

Bei Verabschiedung der Schuldenbremse sollte eine Konjunkturkomponente dafür sorgen, dass die Schuldenbremse nicht prozyklisch wirkt und den Gesetzgeber bei Unterauslastung der Wirtschaft zu weiteren Budgetkürzungen zwingt (die FAQ zur Konjunkturkomponente finden sich hier, das Gutachten zur Umsetzbarkeit aus verfassungsrechtlicher Sicht hier). Die Definition der Konjunkturkomponente, die den Defizitspielraum des Parlaments mitbestimmt, wurde dabei mittels § 5 Abs. 4 G-115 an BMF und BMWi übertragen. In der Diskussion um eine mögliche Reform der Konjunkturkomponente stellt sich auch eine grundsätzliche Frage: Welche Rolle wollen wir für welche staatliche Gewalt im Sinne der Gewaltenteilung?  

Wolfgang Schäuble hat in seiner Eröffnungsrede zur konstituierenden Sitzung des 20. Bundestags klargestellt, welche Rolle er sich für die Legislative wünscht: Er wünscht sich ein selbstbewusstes Parlament, selbstbewusste Parlamentarier, und er fordert diese auf, sich nicht zu stark durch die Judikative eingrenzen zu lassen.  

Die Eingrenzung der Legislative passiert jedoch nicht nur durch das Bundesverfassungsgericht, auf das Schäuble hier abspielt, sondern auch durch die Exekutive. Anders als die Judikative hat die Exekutive aber natürlich kein Kontrollrecht gegenüber dem Parlament, sondern ihre Macht ergibt sich immer und überall aus Kompetenzen, die ihr die Legislative durch Gesetze übertragen hat.  

Wenn man die Frage stellt, ob eine Aufgabe durch das Parlament an die Exekutive delegiert werden sollte, stellen sich zwei Fragen: 1. Ist die Aufgabe politisch oder technisch? 2. Gibt es politökonomische oder demokratietheoretische Gründe, die Aufgabe nicht bei der Legislative zu belassen?   

Handelt es sich bei der Definition der Konjunkturkomponente um eine technische oder eine politische Aufgabe? 

Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt für gesetzliche Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen, mit welchen die Legislative Normsetzung an die Exekutive überträgt, dass Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen. Wenn Beamte Ermessen ausüben dürfen, muss laut der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie bestimmt sein, mit welcher Tendenz die Beamten ihr Ermessen ausüben sollen. Diese Kriterien werden bei der Konjunkturkomponente, deren Berechnung durch § 5 Abs. 4 G-115 an BMWi und BMF delegiert wurde, nicht eingehalten.  

Besonders offensichtlich ist die Unbestimmtheit des Gesetzes, wenn man einen Blick auf das Verfahren wirft, das BMWi und BMF nutzen, um die Konjunkturkomponente zu bestimmen. Um zu schätzen, wie ausgelastet die Wirtschaft aktuell ist, schätzen BMWi und BMF die sogenannte NAWRU, definiert als jene Erwerbslosenquote, die mit einer langfristig konstanten Lohninflationsrate einhergeht. So wird angenommen, dass die Löhne inflationär anziehen, wenn die NAWRU unterschritten wird, da Arbeitnehmer dann die Unternehmen zu überhöhten Lohnabschlüssen zwingen würden, die diese wiederum zu Preiserhöhungen zwängen (in diesem Zusammenhang spricht man von einer möglichen “Überhitzung” des Arbeitsmarkts).  Diese Annahme ist aber eben nur eine Annahme. In Deutschland wird die NAWRU aktuell von BMWi und BMF auf 3% geschätzt.  Dadurch wird durch die Ministerien festgelegt, dass eine Arbeitslosigkeit von unter 3% nicht wünschenswert ist und es entstehen Anreize, die Arbeitslosigkeit nicht unter diesen Wert sinken zu lassen, da der Staat ansonsten zu weiteren Einsparungen gezwungen würde. Diese Mechanik, nach welcher ein Unterschreiten einer bestimmten Arbeitslosenquote automatisch dazu führt, dass von einer überhitzten Konjunktur auszugehen ist, die wiederum Budgetkürzungen nach sich zieht, wurde in Deutschland in keinem Gesetz festgehalten. Der Haushaltsgeber wird also in seinem Königsrecht aufgrund einer Methodik eingeschränkt, die er selbst nie legitimiert hat. 

Dies wäre eventuell noch haltbar, wenn die NAWRU auf einer zweifelsfreien empirischen Grundlage aufbauen würde – es also ausreichend Datenmaterial gäbe, das sicherstellt, dass eine Arbeitslosigkeit unterhalb eines bestimmten Schwellenwerts tatsächlich zu einer Überhitzung der Wirtschaft und höherer Inflation führen würde. Das ist jedoch nicht der Fall. So wird die NAWRU einfach anhand von Arbeitslosenquoten der letzten Jahre ermittelt – ohne überhaupt festzustellen, ob bei einer Unterschreitung dieser Werte eine Überhitzung der Wirtschaft passiert wäre.  

Die US-Notenbank Fed hat aufgrund der Unsicherheit bei der Schätzung der NAWRU bereits 2020 erklärt, im Rahmen ihrer geldpolitischen Entscheidungen zukünftig nicht mehr von einer Überhitzung der Wirtschaft auszugehen, wenn die Arbeitslosenquote unter die hauseigene NAWRU-Schätzung fällt, da man sich in der Vergangenheit mehrfach verschätzt hatte.  

Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verordnungsermächtigung aufkommen 

Das Ausführungsgesetz zum Art 115, das die Vorgaben aus dem Grundgesetz zu Schuldenbremse ausführt und im Rahmen dessen die Definition der Konjunkturkomponente an BMWi und BMF übertragen werden, enthält keinerlei Vorgaben zur Frage, anhand welcher Kriterien die Konjunkturkomponente festgelegt werden soll. Das Konzept der NAWRU etwa wird nirgendwo erwähnt. Korioth und Müller gehen daher in ihrem Rechtsgutachten auch davon aus, dass das Ausführungsgesetz nicht den Anforderungen zur Bestimmtheit genügt, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Wesentlichkeitstheorie entwickelt hat: 

Es ist daher die Aufgabe des Gesetzgebers die Faktoren festzulegen, die Einfluss auf die Konjunkturkomponente haben. Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber zusätzlich die Annahmen vorgeben, die hinsichtlich dieser Faktoren ggf. zu treffen sind. In der aktuellen Form spricht jedoch vieles dafür, dass die Konjunkturkomponente verfassungswidrig ist – was auch Hanno Kube, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Finanz- und Steuerrechts und Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, so sieht

Sprechen gewichtige Gründe dafür, die politische Aufgabe der Definition einer Konjunkturkomponente der Legislative zu entziehen? 

Häufig fällt jedoch auch das Argument, dass es bei öffentlichen Defiziten ein Zeitinkonsistenzproblem ähnlich wie in der Geldpolitik gäbe: Zu hohe öffentliche Defizite führen wie zu niedrige Zinsen mittelfristig zu Inflation, können aber kurzfristig die Wirtschaft stimulieren und so die Wahlchancen der Regierungsparteien erhöhen, die dann ihre Mehrheit im Parlament für inflationäre Politik missbrauchen, was zu einer instabilen Wirtschaftspolitik mit häufigeren Rezessionen führe. Die Debatte um Zeitinkonsistenzprobleme hat eine lange Literatur.[1]

Unabhängig von der Debatte um Zeitinkonsistenz zeigt ein Blick auf die USA unter Präsident Trump auch, dass eine unabhängige Notenbank ein Stabilitätsanker sein kann, wenn die Exekutive versucht, alle Macht an sich zu ziehen. Zu viel Macht in den Händen einer Person kann ein Risiko darstellen. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, das Macht über das Geld in den gleichen Händen wie Macht über die komplette Exekutive etwas zu viel Macht in einer Hand sein könnte.  

Aber können diese Zeitinkonsistenz- und Machtkonzentrationsargumente auch auf die Haushaltspolitik angewendet werden und sind sie Grund genug, die Legislative bei der Definition der Konjunkturkomponente zu entmachten?  

Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des Parlaments. Kompetenzübertragungen im Haushaltsrecht müssen also noch besser begründet werden als andere Kompetenzübertragungen, sofern sie überhaupt zulässig sind.  

Selbst wenn man zum Ergebnis kommen sollte, dass die Einschneidung im Haushaltsrecht zulässig ist, kann es nicht die richtige Lösung sein, BMWi und BMF hierüber entscheiden zu lassen. Das würde nämlich die Macht in der Exekutive anders als bei der Entscheidung für die Unabhängigkeit der Notenbank noch weiter erhöhen. Wenn man der Ansicht ist, dass die Legislative hier nicht entscheiden soll, müsste man die Definition der Konjunkturkomponente an eine unabhängige Institution wie die Zentralbank delegieren.  

Man kann also, die erheblichen verfassungsrechtlichen Zweifel einmal außen vor, unterschiedlicher Meinung in der Frage sein, ob die Legislative hier zuständig sein soll. Klar ist aber: Eine selbstbewusste Legislative darf sich aus einer Debatte, in der es um die Einschränkung ihres Königsrechts geht, nicht verabschieden. Die Frage, wer die Konjunkturkomponente definiert, gehört auf den Verhandlungstisch der Ampel. 


Fußnoten

[1] “Kydland, F. E., & Prescott, E. C. (1977). Rules rather than discretion: The inconsistency of optimal plans. Journal of political economy, 85(3), 473-491” und “Barro, R. J., & Gordon, D. B. (1983). Rules, discretion and reputation in a model of monetary policy. Journal of monetary economics, 12(1), 101-121“ gelten als Wegbereiter in der Literatur um Zeitinkonsistenzproblem, das als wichtigster Grund für Zentralbankunabhängigkeit angeführt wird. Bibow führt aus, weshalb ihn diese Gründe nicht überzeugen.: Bibow, J. (2004). Reflections on the current fashion for central bank independence. Cambridge Journal of Economics, 28(4), 549-576.


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