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28. January 2021
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Philippa Sigl-Glöckner

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Geldbrief

I ❤️ Schuldenbremse

5 min Lesezeit

Zusammengefasst:

  • Kanzleramtschef Helge Braun schlägt vor, die Rückkehr zur Schuldenbremse über 2022 hinaus zu vertagen, um die Erholung der deutschen Wirtschaft nicht zu gefährden
  • Der Vorschlag geht in die richtige Richtung, verschiebt aber in der jetzigen Form das Problem nur in die Zukunft
  • Eine nachhaltige Reform der deutschen Fiskalpolitik erfordert das Zurücklassen nicht mehr zu rechtfertigender Dogmen

Der Vorschlag

Am Dienstag überraschte Helge Braun, Chef des Kanzleramts, mit einem Vorschlag die Verfassung zu ändern. Der Grund: die Rückkehr zur Schuldenbremse solle hinausgeschoben werden, und zwar lieber über einen verfassungsrechtlich eingemauerten Pfad als durch jährliche ad-hoc Entscheidungen.

Unter der Schuldenbremse darf der Bund sich, von ein paar Ausnahmen abgesehen, pro Jahr maximal in Höhe von 0,35% des Bruttoinlandsprodukts verschulden (nachdem man für die konjunkturelle Lage korrigiert hat; mehr Details hier). Braun schlug vor, dass der Bund sich mehrere Jahre Zeit nehmen könne, um zu diesen 0,35% zurückzukehren.

Ebenso fordert Braun, den Rückkehrpfad zur Schuldenbremse und das Jahr, in dem der Bund zur Schuldenbremse wieder einhalten muss, im Grundgesetz festzuhalten. Es geht hier also nicht um die Abschaffung der Schuldenbremse, sondern eine zeitlich begrenzte, in ihrem Ausmaß präzise Aussetzung. Das ist keine ganz neue Idee: So schlug der Sachverständigenrat (die „Wirtschaftsweisen“) in seinem Jahresgutachten (S. 140) eine schrittweise Rückkehr zur Schuldenbremse bis 2024 vor.

Die Parteiführung und Fraktion haben dem Ganzen erstmal eine Absage erteilt. In Antwort auf die durchaus deutliche Reaktion schrieb Braun auf Twitter er liebe die Schuldenbremse.

Wieso dieser Vorstoß?

Die Einsparbedarfe über die nächsten Jahre wären unter der Schuldenbremse so signifikant, dass ihre Einhaltung ohne massive Steuererhöhungen oder empfindliche Kürzungen wohl kaum möglich wäre. Von 2022 bis 2024 müssten knapp 43 Mrd. EUR weniger ausgegeben werden. Das entspricht ungefähr dem gesamten jährlichen Verteidigungshaushalt. Gleichzeitig erwartet die Bundesregierung, dass unsere Wirtschaftsleistung auch mittelfristig Schaden genommen hat: das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll noch 2024 um gut 100 Mrd. EUR niedriger ausfallen als in den Prognosen vor Corona.

Unter diesen Umständen mit einem Sparprogramm weitere Nachfrage aus der Wirtschaft zu ziehen, wäre kaum zu verteidigen. Und so versucht Braun in seinem Meinungsbeitrag die Schulden auch nicht mittels Investitionen zu legitimieren, wie es sonst in der Schuldendebatte so oft getan wird, sondern argumentiert, dass man jetzt weder mehr Geld aus dem Wirtschaftskreislauf ziehen noch weniger hineingeben sollte. Das ist sinnvoll und richtig.

Doch ein bisschen Fetisch

Ebenso fordert er aber, den genauen Rückkehrpfad zur Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Die Konsequenz: Ein weiterer Lockdown und die damit einhergehende finanziellen Konsequenzen würden höchstwahrscheinlich die nächste Grundgesetzänderung erfordern. Ist das Grundgesetz der richtige Ort für Regelungen, die sich innerhalb von sechs Monaten ändern können?

Brauns Vorstoß wirft eine weitere Frage auf: Wenn die Wirtschaft von einer längeren Aussetzung der Schuldenbremse profitiert, wieso überhaupt zu ihr zurückkehren? In seiner Expertise von 2007 zu dem Thema begründete der Sachverständigenrat die Notwendigkeit einer Schuldenregel damit, dass Schulden zu Lasten zukünftiger Generationen gingen—so der Zinssatz auf öffentliche Schuldtitel die Wachstumsrate des BIPs übertreffe. Weiter schrieb der Rat:

„Trifft die Voraussetzung nicht zu, dass der Zinssatz dauerhaft die Wachstumsrate übersteigt, können Verschuldungsbegrenzungen nicht überzeugend begründet werden.“ (Expertise des SVR, 2007, S. 31)

In einer Zeit von Negativzinsen greift die einstige volkswirtschaftliche Begründung für die Einführung der Schuldenbremse also nicht mehr.

Kurzatmigkeit

Brauns Vorschlag zielt vor allem darauf ab, ein verfrühtes Abwürgen der Erholung zu verhindern. So weit, so gut. Doch anstelle fiskalisches Abwürgen dauerhaft durch finanzpolitische Rückenwinde zu ersetzen, scheint der Vorschlag das Abwürgen schlicht nach hinten zu verschieben.

Der Gastbeitrag selber nennt keine konkreten Zahlen. Daher unterstellen wir zwecks Analyse ab 2022 den vom Sachverständigenrat vorgeschlagenen Rückkehrpfad: Ein erlaubtes Defizit von 1% in 2022, 0,5% in 2023 und 0,35% in 2024 (siehe Abbildung 45 des SVR Jahresgutachtens). Auf diesem Pfad würde man der Patientin frühzeitig die Beatmung abdrehen, obwohl sie kaum von der Intensivstation wäre. Denn laut Projektionen wird selbst 2024, den jetzigen Politikkurs vorausgesetzt, noch eine Lücke von gut 100 Mrd. Euro zwischen tatsächlicher Wirtschaftsleistung und dem vor der Pandemie projizierten Produktionspotential liegen. Wir glauben, dass Deutschland diese Lücke schließen könnte: Die Pandemie hat weder Wissen noch Industrieanlagen zerstört. Wenn wir uns zusammenraffen, können die Kapillarstrukturen — die Kneipe an der Ecke, der kleine Dienstleistungsbetrieb, die Kulturschaffenden usw. — die sicherlich gelitten haben, bis dann wieder aufgebaut werden. Doch wie soll dies gelingen, wenn der Staat angesichts einer Lücke von 100 Mrd. nur noch mit 14 Mrd. stützen darf? So ist der Vorschlag gut gemeint, aber verschiebt am Ende doch vor allem Probleme in die Zukunft.

Und jetzt?

Brauns Beitrag hat eine überfällige Debatte angestoßen. Er macht deutlich, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt. Nicht beim Sparen, sondern beim Nachjustieren der deutschen Fiskalpolitik, deren heutiger Rahmen keine Rechtfertigung mehr besitzt. Noch scheinen sich viele an Schuldenbremse und schwarzer Null festzuklammern, vielleicht auch weil Alternativen fehlen. Wir möchten gerne helfen, das zu ändern: Im Makronom habe ich (Philippa) einen ersten Vorschlag skizziert, der im Freitag auf die Ideen von Christian Kastrop und Katja Rietzler trifft.[1] In einem Interview mit dem Spiegel erklärte Max, wie Fiskalpolitik mit Löhnen und Ungleichheit zusammenhängt und wieso auch Unternehmen ein Interesse daran haben, dass der Staat jetzt die Schuldenbremse abschleift und ‚ordentlich reinbuttert‘.


Fußnoten

[1] Dieser Artikel ist ein Must-Read für alle, die sich für die wahre Geschichte der Schuldenbremse interessieren.

Der Dezernatsbrief ist ein zweiwöchentlicher Kommentar zu aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Ökonomie. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an info[at]dezernatzukunft.org

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