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20. Oktober 2022
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Philipp Orphal

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Geldbrief

Sondergeldbrief: Zinsen statt Geldmenge – Monetarismus in der Europa-Rechtsprechung?

Lesedauer: 7 min

Philipp Orphal

In den vergangenen Monaten haben wir in einem Geldbrief, einem vertiefenden Fachtext und nicht zuletzt in unserem allerersten Comic den Übergang der geldpolitischen Implementierung von Geldmengensteuerung hin zu Zinssteuerung aufgearbeitet. Und sicherlich haben Sie sich bei der Lektüre gedacht: „Wow, das ändert alles. Aber was folgt daraus konkret?“ Keine Sorge: Sie sind mit dieser Frage nicht allein. In unserem heutigen Sondergeldbrief besprechen wir die juristischen Folgen dieses Wandels: die Konsequenzen dafür, was die Zentralbanken rechtlich dürfen und was nicht.

Wer zu diesem Thema tiefer eintauchen möchte, dem sei unser neustes Papier empfohlen, frisch veröffentlicht letzten Freitag. Wir laden ebenfalls herzlich ein zur Online-Vorstellung des Papiers am 7.11.22 von 17:30 bis 18:30 Uhr. Florian Kern und Philipp Orphal werden eine Einordnung und einen Überblick des Papiers geben, Jens van ‘t Klooster, Professor in politischer Ökonomie an der Universität von Amsterdam und EZB-Experte, wird kommentieren, anschließend folgt eine offene Q&A.

Was hat Geldpolitik mit Recht zu tun?

Spätestens seit dem 5. Mai 2020 gilt es in Deutschland als bekannt, dass die EZB sich mit ihren Anleihekäufen in einer juristischen Grauzone bewegt. Ihr Handeln wird nur deshalb juristisch geduldet, so der Anschein, weil alle wissen, dass es ökonomisch notwendig ist, um größere Verwerfungen zu vermeiden. Rechtlich, so scheint es in mancher Analyse, nutzt sie dabei die bestehenden Regelungslücken maximal aus. Ist sie also so eine Art Steuersünderin, die Geld drucken kann?[1]

Nochmal von vorne.

Mit Abschluss des Maastricht-Vertrags 1992 wurde der „unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln“ durch Zentralbanken, also Anleihekäufe am Primärmarkt, verboten. Damals Artikel 104, dann Artikel 101 EGV, heute Artikel 123 AEUV, besagen jeweils:

Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als „nationale Zentralbanken“ bezeichnet) für […] Zentralregierungen […] sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.

Praxisrelevant wurde dieses Verbot erst in den 2010er Jahren, als Peter Gauweiler und andere so oft gegen die Sekundärmarktankäufe der EZB klagten, dass ein großer Europarechts-Professor schon 2021 von einem „ermüdenden Ritual“ sprach. Im PSPP-Urteil gab das Bundesverfassungsgericht ihnen schließlich – unter einem anderen Aspekt – Recht.

Die EZB sah sich in diesen Verfahren dem Vorwurf ausgesetzt, durch Ankäufe am Sekundärmarkt gegen das Verbot von Ankäufen am Primärmarkt zu verstoßen. Das ist auf den ersten Blick genau so unlogisch wie es klingt: Das eine ist verboten, das andere nicht. Es erklärt sich aber mit dem Vorwurf der Umgehung.

Und tatsächlich: Die Gerichte interpretierten das Primärmarktverbot bis jetzt so, dass auch Sekundärmarktankäufe nur unter sehr engen Bedingungen erlaubt sind. Die EZB kann sich nie so richtig sicher sein, ob sie diese Bedingungen erfüllt. Gegen ihr Pandemie-Programm PEPP ist schon Klage erhoben, das Verfahren läuft; ihr neues Programm TPI (dazu unser FAQ) wird wahrscheinlich nicht lange unbehelligt bleiben.

Und was hat das mit Preisstabilität zu tun?

Was hat die Einengung von Sekundärmarkteinkäufen mit Preisstabilität zu tun? Das ursprüngliche Verbot von Primärmarktankäufen entstammt einem bestimmten geldpolitischen Zeitgeist. In den 80ern und 90ern ging man davon aus, dass Erhöhungen der Zentralbankgeldmenge – der sogenannten Geldmenge M0 – immer Inflation zur Folge hätten. Da die Zentralbanken Anleihekäufe durch Geldschöpfung finanzieren und Zentralbankgeld theoretisch in unendlicher Menge geschöpft werden kann, hätte der Staat Zugriff auf unendlich viel Geld, müsste dafür keine Zinsen zahlen – aber die Verbraucherpreise würden explodieren. Monetäre Staatsfinanzierung war aus damaliger Sicht der schnellste Weg in die Hyperinflation.

Da außerdem befürchtet wurde, dass Staaten immer Wege finden würden, auch die unabhängigste Zentralbank dazu zu bewegen, ihre Defizite zu finanzieren, musste neben der Unabhängigkeit ein zusätzlicher Schutzmechanismus her. Also wurden „unmittelbare“ Anleihekäufe (d.h. am Primärmarkt), ob freiwillig oder nicht, einfach ganz verboten: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.

Es ist dieses Verbot, das die Gerichte in ihrer Rechtsprechung dann weiterentwickelten, um jeden Versuch einer Umgehung mittels Sekundärmarktankäufe zu unterbinden – im Sinne der obigen „Steuersündertheorie“, in der das ursprüngliche Verbot richtig und wichtig ist, auch vollkommen konsequent.

Heute weiß man aber, dass in der damals vermuteten Gefahr keine lauert. Wir haben also ein geldpolitisches Instrument verboten und das Verbot möglichst streng interpretiert, und jetzt stellen wir fest, dass dieses Instrument per se gar keine Gefahr darstellt und es für die Geldpolitik elementar ist. Weder in England noch in Japan sind Primärmarktankäufe zum Beispiel verboten, fast überall gehören großvolumige Sekundärmarktankäufe nach 2008 zum gängigen Repertoire der Geldpolitik.[2] Der Plot Twist ist dramatisch: Wenn wir mit diesem Verbot damals gar keine Gefahr gebannt haben – what have we done?!

Was nun?

In unserem letzten Freitag veröffentlichten Papier fragen wir, was nun zu tun ist, da diese Lage erkannt ist. Das Primärrecht ist wie es ist, die Europäischen Verträge werden nicht kurzerhand geändert. Allerdings können die Gerichte im Lichte neuer Erkenntnisse ihre Auslegung des Verbots ändern. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass sie das auch tun sollten, unter drei Aspekten:

  • Primärmarktankäufe sind verboten. Da ist der Wortlaut des Vertrags eindeutig. Aber zu Sekundärmarktankäufen schweigt er. Sie zu verbieten, hat im heutigen Verständnis von Geldpolitik keinen Sinn. Die Einschränkungen von Sekundärmarktankäufen sollten also aufgeben werden. Das ist juristisch möglich, denn das Verbot bezieht sich nur auf den „unmittelbaren“ Erwerb.
  • Die Interpretation, dass das Verbot auch überhöhte mitgliedsstaatliche Defizite verhindern soll und aus diesem Grunde weit ausgelegt werden muss, verdreht die Zuständigkeiten. Für die Beschränkung von öffentlichen Defiziten gibt es separate Fiskalregeln und Vertragsartikel. Zentralbanken haben eine Hauptaufgabe: Preisstabilität. Dieser müssen sie nachgehen können, ohne in ein kontraproduktives Verbotskorsett geschnürt zu sein, das keinen Schutzzweck mehr hat. Für die Beurteilung von mitgliedstaatlichen Defiziten sind die Kommission und der Rat zuständig. Ganz klassisch also: jeder Institution ihre klare Aufgabe.
  • Auch mit unserer nationalen Fiskalhoheit haben Anleihekäufe wenig zu tun. Wenn die österreichische Nationalbank österreichische Anleihen kauft, entsteht kein fiskalisches Risiko für den deutschen Haushalt. Das besprechen wir detailliert in Box 2 unseres Papiers. Auch aus dem verständlichen Bemühen des Bundesverfassungsgerichts, den deutschen Haushalt und die Haushaltshoheit des Parlaments zu schützen, ergibt sich daher keine Notwendigkeit, Anleihekäufe enger als im Vertrag explizit geschrieben einzuschränken. Diese Argumentationslinie, die sich in der bisherigen Rechtsprechung findet, sollte aufgegeben werden. Der Schutz des Budgetrechtes des Bundestags sollte in Zukunft mittels der Artikel geschehen, die dafür vorgesehen sind: Art. 121, Art. 125 und Art. 126 AEUV.

Fazit

Das Verständnis von ökonomischen Zusammenhängen wandelt sich im Lauf der Zeit. Was in den 1980ern und 1990ern noch als notwendig zur Inflationsbekämpfung galt – die Einschränkung von Erhöhungen der Zentralbankgeldmenge – hat sich mittlerweile als unnötig und in manchen Umständen (insbesondere in Krisenzeiten) als kontraproduktiv herausgestellt. Was in Zentralbankkreisen längst akzeptiert ist, sollte nun auch das Recht erreichen.

Doch einmal geschriebene Regelwerke ändern sich – bis zu ihrer formellen Änderung – nicht. Artikel 123 ist trotz unseres Erkenntnisgewinns nach wie vor geltendes Recht. Die juristischen Methoden bieten jedoch die Möglichkeit, in der Auslegung dieses Artikels den fortgeschrittenen ökonomischen Kenntnisstand abzubilden. Davon sollten wir gebraucht machen.


Fußnoten

[1] Übrigens: Die EZB ist nach Artikel 39 ihrer Satzung in Verbindung mit den Artikeln 3 und 22 des Vorrechteprotokolls von Steuern befreit.

[2] Der IWF beschreibt “direct financing” (Primärmarktankäufe oder direkte Kreditlinien des Finanzministeriums bei der Zentralbank) als eine “alteingesessene Funktion” von Zentralbanken: “From a historical perspective, direct financing has been a longstanding feature of central bank operations.” (IWF 2021, S.11).


Einladung zu “Zinsen statt Geldmenge” Papier-Präsentation 

Liebe Freundinnen und Freunde des Dezernats, 

Wir möchten Euch den Inhalt unseres neusten Papiers nicht nur in Schriftform, sondern gerne auch etwas persönlicher präsentieren. Daher laden wir Sie und Euch herzlich ein, am 7.11.22 von 17:30 bis 18:30 Uhr mit Florian Kern, Philipp Orphal und Jens van ‘t Klooster, Professor in politischer Ökonomie an der Universität von Amsterdam und EZB-Experte, über das Papier zu sprechen.  

Florian und Philipp werden eine Zusammenfassung und Einordnung geben, Jens van ‘t Klooster wird das Papier anschließend kurz auf Englisch kommentieren, bevor wir zu einer offenen Q&A (auf Deutsch) wechseln, die Ihnen und Euch die Gelegenheit gibt, alle Fragen rund um den Monetarismus, seine rechtlichen Konsequenzen und wie wir diese hinter uns lassen können, zu stellen. 

Die Veranstaltung wird online stattfinden, den Link senden wir Ihnen gerne nach vorheriger Registrierung zu.

Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Geldpolitik und der Finanzmärkte. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an philipp.orphal[at]dezernatzukunft.org


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